Kinder sind allein und traumatisiert – als Fernstudentin der CVJM-Hochschule in Brasilien
Silke Henkel ist 45 Jahre alt, Architektin und lebt seit 14 Jahren im ostfriesischen Städtchen Norden. Neben ihrer Arbeit studiert sie seit drei Jahren im Fernstudium Soziale Arbeit an der CVJM-Hochschule. Im Frühjahr 2015 absolvierte sie für diesen Studiengang ein dreimonatiges Praktikum bei der brasilianischen Wohltätigkeitsorganisation „Abba“ in São Paulo. Diese arbeitet überkonfessionell mit verschiedenen christlichen Gemeinden und Kirchen in São Paulo zusammen und ist verantwortlich für mehrere Präventionsprojekte, ein Projekt mit Straßenkindern und ein Kinderheim, dem Casa Elohim. Finanziert wird diese Arbeit fast ausschließlich durch Spenden.
Im Mai reiste Silke Henkel nach Brasilien. Für die Lokalzeitung in Norden berichtet sie anschließend von ihren Erlebnissen:
Im Mai lande ich am internationalen Flughafen in São Paulo. Nach einigen Tagen Eingewöhnungszeit in die südamerikanische Kultur fange ich an zu arbeiten. Einen Tag in der Woche helfe ich in einem Präventionsprojekt namens „Arco-íris“ (Regenbogen), welches für Vorschulkinder aus einer benachbarten Favela durchgeführt wird. Durch dieses Projekte wird versucht, den Kindern frühzeitig Alternativen zum Herumlungern auf der Straße zu bieten und die Familien praktisch im Alltag zu unterstützen.
Ricardo, ein brasilianischer Freund von mir, den ich aus Deutschland kenne und hier wiedertreffe, arbeitet ebenfalls hier. Er führt mich durch die benachbarte Favela, aus der die Kinder kommen. Vor einiger Zeit wurde diese Favela niedergebrannt. Die Menschen haben sich notdürftig aus Brettern Hütten gebaut, die auf der Asche und dem Schutt der zerstörten Häuser stehen. Ich bin geschockt und kann mir kaum vorstellen, dass die Leute, die wir antreffen, dort tatsächlich „leben“. Ricardo redet mit einem Mann. Hinterher berichtet er mir, dass dieser Mann der Drogenboss dieser Favela sei und zeigt mir die Wege, auf denen die Drogen geliefert und verkauft werden. Ich merke einmal mehr, dass meine Welt zu Hause in Ostfriesland eine ganz andere ist als die, die ich hier antreffe.
An weiteren drei Tagen pro Woche arbeite ich im Kinderheim „Casa Elohim“. Jedes der Kinder und Jugendlichen hat Eltern, die sich aber zumeist aufgrund von Drogenproblematiken und Obdachlosigkeit nicht um ihre Kinder kümmern können. Einige Kinder haben beispielsweise mit ansehen müssen, wie der Stiefvater versucht hat, die Mutter umzubringen. Kein Wunder, dass die Kinder oft traumatisiert sind, zwischendurch selbst mit Messern, die sie sich aus der Küche klauen, aufeinander losgehen und sehr bindungsgestört sind.
Nach und nach kann ich Kontakt zu den älteren Kindern herstellen und sie für kreative Bastelarbeiten und ein paar Ausflüge begeistern, an denen alle viel Spaß haben. Abends sitze ich meistens noch an ihren Betten und bete mit ihnen. Sie genießen das und möchten, dass ich möglichst gar nicht aufhöre. Ich wünsche mir, dass sie erkennen, dass ihr Vater im Himmel sie sieht, sich um sie kümmert und sie unendlich liebt. Sie sind wertvoll für ihn.
Gegen Ende meiner Praktikumszeit habe ich noch die Gelegenheit, das Straßenkinderprojekt kennenzulernen, was mich tief bewegt und beeindruckt. Fast täglich treffen sich die Mitarbeiter vor der großen Kathedrale in São Paulo und machen sich auf die Suche nach den Aufenthaltsorten der Kinder, die immer wieder wechseln, unter anderem, weil sie von der Polizei vertrieben werden. Diesmal treffen wir sie auf einem Nebenplatz der Kathedrale. Die Mitarbeiter haben Spiele (Darts, Federball, Uno und ähnliches) mitgebracht, die sie regelmäßig mit den Kindern spielen. Sie möchten ihnen eine Zeit ermöglichen, in denen sie einfach Spaß haben können und Kind sein dürfen. Sie versuchen außerdem im Laufe der Zeit, Beziehungen aufzubauen und das Vertrauen der Kinder zu gewinnen, damit diese den Mut haben, die Chance zu ergreifen, Hilfe anzunehmen. Der erste Eindruck ist sehr verstörend, da die Kinder und Jugendlichen (ich schätze sie auf zehn bis 16 Jahre) alle entweder mit einer kleinen Plastikflasche, in der sich Farbverdünner befindet, vor der Nase herumlaufen, an der sie permanent schnüffeln, um sich (und das Hungergefühl) damit zu betäuben. Ersatzweise tragen sie eine Plastiktüte mit Leim herum, aus der sie die Dämpfe inhalieren.
Viel zu schnell ist meine Zeit in Brasilien zu Ende. Wir feiern Abschied in der Gruppe der ausländischen Volontäre mit Schokoladenpizza, einer brasilianischen Variante der herzhaften italienischen Spezialität. Schweren Herzens muss ich Abschied nehmen von vielen lieben Menschen, die ich kennenlernen durfte. Nach meinem Studienabschluss und ein wenig Berufserfahrung als Sozialarbeiterin in Deutschland möchte ich, so Gott will, Anfang 2017 zurückkommen, um das Projekt längerfristig darin zu unterstützen, Kindern Glaube, Hoffnung und vor allem Liebe zu schenken und ihnen eine Zukunft zu geben.
aus: Ostfriesischer Kurier, Norden